Es war nicht leicht für mich, die Fassung zu bewahren – zu Besuch in der Windmühle in Sloten.

Von Clemens Setz

  1. Dezember 2017, 8:31 UhrEditiert am 27. Dezember 2017, 16:20 UhrDIE ZEIT

Ganz neue Perspektiven: die Windmühle in Sloten

Vor einigen Monaten kam es in dem niederländischen Dorf Sloten, einem grünen, idyllischen Vorort von Amsterdam, zur ersten persönlichen Begegnung zwischen mir und einer alten Windmühle. Schon seit meiner frühesten Kindheit befallen mich beim Betrachten dieser Bauwerke die ungewöhnlichsten Empfindungen, und nicht selten grenzen diese an ekstatische Zustände. Natürlich bin ich mit dieser Neigung nicht allein. Viele Menschen vor mir, nicht nur literarische Figuren wie der arme Alonso Quijano, sind angesichts von Windmühlen verrückt geworden. Und das ist umso verwunderlicher, als sie ja ganz offensichtlich auf nichts verweisen, keine Aussage irgendeines Künstlers, keine unter ihnen begrabenen Herrscherfiguren, sie mahlen nur Getreide oder entwässern ein bestimmtes Gebiet. Aber wie bei Regenschirmen, die ebenfalls vorrangig funktionale Gebilde sind, überrascht und beglückt und verwirrt uns ihr Aussehen.

Als ich mich, zu Fuß kommend über einen Wanderweg quer durch verschlafene Siedlungen, ihr näherte, erschien sie, so wie Proust es über den Glockenturm von Saint-Hilaire schreibt, „nur mit dem Nagel auf den Himmel eingeritzt“. Sie wirkte kaum dreidimensional, eher wie ein zum Leben erwecktes Wappenbild. Ich erinnerte mich an ein Gedicht des französischen Dichters René Char, in dem, wenn ich mich nicht irre, eine auf der Fassade der Kathedrale von Reims angebrachte Windmühle beschrieben wird.

Beim Betreten des Windmühlenkörpers stellte sich ein sanfter Stendhal-Effekt ein. Ich war in einer Windmühle! Ich musste mich bemühen, die Fassung zu bewahren, und konnte den Erläuterungen unserer Führerin zu Geschichte und Funktionsweise der Mühlen kaum folgen. Man stellte mich dem inneren Getriebe vor, der Wasser befördernden Hauptschraube und dem großen, kräftigen Bremsring, welcher die Mühle nachts stillhält. Und ich erfuhr von der Zeichensprache der Flügel: der vertikale Hauptkörper der Mühle symbolisiere, so wurde erklärt, das menschliche Leben, also bedeute eine uhrzeigerähnliche Fünf-vor-Stellung die Geburt eines Kindes und eine „fünf nach“ den Tod. Auch bei Hochzeiten werde die Mühle auf „vor dem Leben“ gestellt. Hochzeiten? Aber ja, versicherte man mir, es gebe viele Menschen, die in der Mühle heirateten.

CLEMENS SETZ

wurde 1982 in Graz geboren. Für seinen Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre (Suhrkamp) erhielt Setz den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2015.

Über den Museumsbetrieb hinaus erledigt die Molen van Sloten selbst heute noch eine vornehme und zivilisationserhaltende Aufgabe: Das gesamte Dorfgebiet wird von ihr im Alleingang entwässert. Ständig droht von allen Seiten die alles zersetzende Gewalt des Wassers, aber die geduldige alte Mühle pumpt die Bewohner jeden Tag ins Trockene und in Sicherheit. Wir traten auf den äußeren Rundgang, und ich kam in Berührdistanz zu einem der großen Flügel. Vom nahen Flughafen Schiphol dröhnten die startenden und landenden Urwesen herüber. Wer kann schon, den Flügel einer Windmühle in der Hand, auf ein Flugzeug blicken und es als selbstverständliches Element der Welt akzeptieren? So dehnbar ist das menschliche Herz nicht.